Das Mattertal – Tal der Gegensätze und Rekorde
Es gehört zum eindrücklichsten, was das mit Naturschätzen reich ausgestattete Wallis zu bieten hat: das 30 km lange Mattertal von Stalden bis nach Zermatt. Eis und Felsensteppen, 29 Viertausender und zahlreiche Weinberge, tiefe Schluchten und hohe Alpmatten, Abgeschiedenheit und Weltkurort prägen ein Tal, das durch seine Gegensätze fasziniert und seine landschaftliche Ästhetik fesselt und … befreit. Arktische Temperaturen auf dem höchsten Skigebiet der Alpen beim Klein-Matterhorn im Winter und heisse Sommertage in den Steppenrasen ob Zermatt – wir befinden uns auf demselben Breitengrad wie … Lugano!
In keinem anderen Tal des Wallis werden so viele Rekorde erzielt wie hier. Der höchste Weinberg Europas findet sich am Eingang des Tales in Visperterminen. Auf bis über 1000m. ü .M. werden hier teils alte, seltene Weinsorten wie Heida oder Gwäss in kleinflächigen Terrassenkulturen mit Trockensteinmauern angebaut. Das vordere Vispertal unterscheidet sich deutlich vom hinteren. In der Gegend zwischen Stalden und St.Niklaus lässt sich eine markante Klimagrenze spüren. Hier verabschieden sich die für die kolline Stufe des Wallis typische Flaumeiche, die wärmeliebende Föhre, die Smaragdeidechse und die Weinberge. In diesen sonnigen, heissen und ariden Gebieten des vorderen Vispertals finden sich mehrere Raritäten: beispielsweise der endemische Leinkrautscheckenfalter (Mellicta deione berisalii), der seine Eier an das Italienische Leinkraut (Linaria angustissima) klebt. Dieser Falter soll stellvertretend für die Vielfalt der Schmetterlingsfauna stehen. Von den ca. 200 Tagfalterarten der Schweiz kommen 80% im Wallis vor. In dieser Gegend findet sich auch die höchste Waldgrenze der Schweiz. Oberhalb Gspon bei Staldenried trotzt der reine Arvenwald den harten klimatischen Bedingungen bis auf eine Höhe von ca. 2400m.ü.M .. Generell lässt sich auch im Wallis eine Ausdehnung des Waldes beobachten. Wenn auch diese weniger schnell als in den Südalpen einhergeht, stellt sie doch für den Erhalt der artenreichen Lichtungen ein Problem dar. Bergbauern, die die steilen Wiesen noch mähen, sollten daher auf Kosten der Flachlandbauern besser entschädigt werden. Die steilen, blumenreichen Magerwiesen werden noch heute von einigen Landwirten mit viel Mühe gepflegt wie beispielsweise in Embd. Sie leisten für die Artenvielfalt einen unschätzbaren Beitrag.
Ein weiterer Rekord in diesem Gebiet stellt das absolute Niederschlagsminimum der Schweiz dar. Paradoxerweise nehmen die Niederschlagsmengen im Mattertal bis in die subalpinen Höhen nicht zu, sondern ab. In der Gegend um Grächen erreichen die Werte gerade mal 550ml (Zürich ca. 1200ml). Dazu kommen fast 300 Sonnentage. Das es in einem solchen Gebiet weniger schneit als beispielsweise im Goms, ist für den Naturkenner eine logische Folge. Zusammen mit der Exponiertheit des Geländes und der Sonneneinstrahlung ist dieser Faktor verantwortlich für das Auftreten zahlreicher Steppenrasen. Besonders erwähnt sei das namengebende Federgras (Stipa pennata, Stipa – Steppe) , das ursprünglich osteuropäischer Herkunft ist. Überhaupt gibt es im Mattertal viele wärmeliebende Arten, die ihre Heimat in den Steppen Osteuropas , beispielsweise der Pusta oder im Mittelmeerraum haben. Sie wanderten langsam nach der letzten Eiszeit vor 10′ 000 Jahren bei uns ein. Interessant ist, dass die Steppenrasen im Mattertal bis auf einer Höhe von ca. 2000m.ü.M. gedeihen. Hier fanden sich auch die höchsten Getreidefelder Europas. Der Roggenanbau erreichte bei FindeIn eine Höhe von 2100m. ü .M. Seit längerer Zeit ist er erloschen. Die besondere Klimagüte verdankt Zermatt und das Mattertal neben seiner Abschirmung durch die zahlreichen Viertausender auch seiner südlichen Lage. Fälschlicherweise wird mit der Südschweiz immer nur das Tessin gemeint, obwohl, wie bereits erwähnt, Zermatt südlicher als 2/3 des Tessins liegt. Das Auffinden der Rotflügligen Oedlandschrecke beim Zmuttgletscher untermauert diese Tatsache, verblüfft aber, da sie normalerweise in der Nähe von Weinbergen anzutreffen ist. Apropos Weinberge: Zur Zeit um Christi Geburt waren weder Gletscher noch ewiges Eis in der Bergwelt des Mattertals auszumachen. Oberhalb Zermatt wurden Weinberge angebaut und Wein vergoren … Der Theodulpass war mit Saumtieren problemlos zu begehen.
Ausgangs des Mittelalters gab es wieder ein Optimum, das die Gletscher weit zurückziehen liess, bevor sie dann in der kleinen Eiszeit wieder nach vorne stiessen.
Anekdote Stein und Gletscher
Wie gesagt, im Mattertal ist alles ein bisschen höher als sonst. Bis hinauf zur Riffelalp auf 2222m. ü .M. brütet der Gartenrotschwanz, was ebenfalls einen Höhenrekord darstellt, wie auch jener des Steinrötels auf 2730m.ü.M. Beim Riffelsee auf 2770m.ü.M. kann sich noch eine Libellenart, die Torf-Mosaikjungfer, (Aeshna juncea) entwickeln, ebenfalls ein Höhenrekord, wie das vorkommen auf über 2000 m der Mauereidechse unterhalb des Bisgletschers. Schliesslich sei noch der Steinadler erwähnt. Das Mattertal weist z.Z. 5 besetzte Territorien auf, nachdem der Adler vor 100 Jahre an den Rand des Aussterbens gedrängt worden ist. Übrigens auch der Steinbock, mit dem Zermatt starke Werbung betreibt war vor 100 Jahren ausgestorben. Ein Umdenken in der Gesellschaft war Voraussetzung, dass sich solche Tiere wieder ansiedeln konnten. Der botanische Reichtum steht dem faunistischen ln keiner Weise nach. Im Gegenteil: Vielfal t und Seltenheit prägen eine Gegend, die botanisch zum Familiensilber der Schweiz gehört. Allein in der Region Zermatt kommen sieben als weltweit selten eingestufte Pflanzenarten vor, allesamt Endemiten der Penninischen Alpen, z.B. Stein-Klee (Trifolium saxatile), Schnee-Edelraute (Artemisia nivalis) oder die Niedrige Rapunzel (Phyteuma humile). Einige Höhenrekorde von Blütenpflanzen:
- Zweiblütiger Steinbrech am Dom auf 4450m
- Alpen-Mannsschild am Matterhorn auf 4200m
Das Mattertal weist im Bereich Natur und Landschaft 8 Objekte von nationaler Bedeutung auf: Drei Moorbiotope und ein Amphibienlaichgebiet auf der Moosalp, ein Objekt des Bundesinventars der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung, nämlich das Gebiet um Dent-Blanche Matterhorn – Monte Rosa und 3 Gletschervorfelder von nationaler Bedeutung: Triftgletscher, Abberggletscher und Holiechtgletscher.
Man erkennt vieles – einiges zu spät! So erkennen Wlr Walliser diese Schätze der Natur nicht immer. Sie haben sich wahrscheinlich gefragt, warum beispielsweise nur 3 Gletschervorfelder nationale Bedeutung erlangen, kennt doch das Mattertal über 20 Gletschervorfelder. Viele wurden durch die menschliche Nutzung verschandelt, dass sie ihren Wert verloren haben. Als Beispiel sei hier der Zmutt- oder FindeIngletscher erwähnt. Die hydroelektrische Nutzung hat wissenshcaftlich,einmalige Vorfelder degradiert. Der Tummigbachwasserfall ist einer der einzigen Wasserfälle im Mattertal, der übrig geblieben ist, wo das Wasser noch ein mehr oder weniger natürliches Regime führt. Oder geologisch wunderschöne, jahrtausendalte Gletscherschliffland¬schaften und Moränen wurden für Skipisten ausplaniert und unwiderruflich zerstört. Dabei hatten unsere Vorfahren ein bestes Naturverständnis Schönste Walliserdörfer wurden von unseren Vorfahren errichtet. Dem Boden wurde Sorge getragen und die Naturgefahren erkannt. So wurde beispielsweise praktisch nie im Hochwasserbereich der Flüsse oder im Einzugsgebiet einer Lawine gebaut. Heute wo dieses Verständnis fehlt, braucht es Raumplanungsgesetze und Gefahrenkarten . Wir haben zwar bestens qualifizierte Fachleute, aber die Gesellschaft nimmt ihren Rat oft nicht zur Kenntnis. Weil es aber kurzfristig keinen Gewinn abwirft, wird es in Frage gestellt. Ja, die Geschichte lehrt, hat aber nur wenig Zuhörer.
So hat bereits Tatanga Mani, ein Indianerhäuptling vor über 200 Jahren gesagt Weisst du, dass die Bäume reden? Ja, sie reden. Sie sprechen miteinander, und sie sprechen zu dir, wenn du zuhörst. Aber die weissen Menschen hören nicht zu. Sie haben es nie der Mühe wert gefunden, uns Indianer anzuhören, und ich fürchte, sie werden auch auf die anderen Stimmen in der Natur nicht hören. Ich selbst habe viel von den Bäumen erfahren: manchmal etwas über das Wetter, manchmal über Tiere, manchmal über den Grossen Geist. Dieses “Auf-die-Natur-hören”, Zusammenhänge erkennen, Folgen abschätzen, geht unserer modernen Gesellschaft teilweise ab.
Dass die Gemeinde Randa den heutigen Abend unter das Thema Natur gestellt hat, finde ich grossartig und sehr zutreffend. Warum? Das Mattertal mit seiner vielfältigen Natur ist für viele von uns Heimat. Was ist aber Heimat? Heimat ist da, wo das Herz schmerzt – wo es einem weh tut, wenn Eingriffe die Identität und Intaktheit beeinträchtigen. Wenn es unserer Generation gelingt, eine solche intakte Natur und Landschaft mit ihrer vielfältigen Artenvielfalt und Lebensräumen für unsere Kinder zu erhalten, dann schenken wir diesen ein Stück Heimat, eine Heimat, wie wir sie von unseren Eltern erhalten haben – eine Heimat um die uns viele andere Menschen beneiden. In diesem Sinne sind Natur und Heimat eng miteinander verbunden. Wer die Natur nicht respektiert, ist heimatlos geworden. Philosoph Günther Andres formulierte es so: Wir der Perfektion unserer Produkte nicht gewachsen. stellen mehr her, als wir verantworten können. glauben auch zu dürfen, was wir können.
Darum möchte ich mit folgendem Rat schliessen:
Quelle: Schmidt Gerhard (Biologe)